Amerikareise 2001 -
Kapitel 55: Alles Rodger
Und um ehrlich zu sein, zwischendurch ist es schon ganz praktisch, in einem richtigen Bett zu schlafen, die Dusche nebenan, die Telefondose griffbereit in der Wand und die Waschmaschine zwei Türen weiter. Nicht zu vergessen die persönliche Betreuung durch Mama Linda, die ihre drei inzwischen ausgeflogenen Söhne vermisst und mich gleich "adoptiert" hat. Da macht sich das italienische Blut in ihren Adern bemerkbar, was wohl auch für die Kochkünste verantwortlich zeichnet.
Nicht nur der angehende Rekordhalter Barry Bonds (im Augenblick hat er in dieser Saison 59 Homeruns geschafft, bis zum Ende sollten es 73 werden) wird lautstark bejubelt, auch die drei Rookies, die im Laufe des Abends ihr erstes Spiel in den Major Leagues bestreiten, werden wie große Stars gefeiert. Das kann allerdings nicht verhindern, dass die Giants gegen die Arizona Diamondbacks, die späteren Gewinner der World Series, mit 2:7 untergehen. Vor allem der pitcher der D'backs, Curt Schilling, hat einen glänzenden Tag. Er kassiert Sieg Nr. 20 und schlägt 3 von 3.
Der schmerzhafteste Moment des Abends sind diese Herren. Nachdem sie schon vor dem Spiel mit dem Ententanz für Stimmung gesorgt haben, dürfen sie auch die Nationalhymne intonieren (nicht die bayerische, die amerikanische!). Das ging dann ungefähr so: "... o'er the land of the free - jololohitiii - and the home of the brave". Ich möchte wetten, mindestens die Hälfte aller Besucher hält das für typisch deutsch. Es ist ja so traurig!
Zu hause bei Grays hängt dann beinahe der Haussegen schief. Linda als bekennende Giants-Anhängerin kann sich mit dem Ausgang des Spiels gar nicht anfreunden, vor allem weil Barry keinen weiteren Homerun gehauen hat. Rodger dagegen ist zwar in Kanada geboren, aber in Los Angeles aufgewachsen, ergo Dodgers-Fan. Er freut sich natürlich, dass die Pygmies verloren haben. Kurz danach werden sogar die Baseballkeulen ausgepackt, es entwickeln sich aber nur Scheingefechte für die Kamera.
Zwecks Vorbereitung der weiteren Reise besorgt Rodger mir zwei Pfund Reiseführer und Straßenkarten, die bekommt er bei AAA, dem amerikanischen Gegenstück zum ADAC, nämlich gratis. Dass ich schon fast die Hälfte der verbleibenden Zeit bräuchte, um das alles zu lesen, macht nix. Die meisten Karten sind übrigens tatsächlich sehr hilfreich, das Mexiko-Exemplar eher weniger (siehe dort). Nachdem sich Rodger gestern schon nicht sehr gut gefühlt hat, um mit seinem Bruder Wayne und mir zum Baseballspiel gehen zu können, ist dieser hässliche Husten heute noch schlimmer geworden. Deshalb schauen wir uns nach einem gemütlichen Frühstück zunächst das Nachbarstädtchen Lodi an. Da gibt es einen richtig guten Bäcker und das allererste A&W-Restaurant (vgl. Kapitel 18). Dann geht es quer durch das Delta des San Joaquin River in ein Örtchen namens Rio Vista.
Unser Ziel ist eine Kneipe namens Foster's Bighorn. Von außen ist noch nichts wirklich ungewöhnliches zu erkennen, aber innen verschlägt es mir dann doch fast die Sprache. Ein passionierter Jäger namens Bill Foster hat zwischen 1928 und 1953 eine enorme Sammlung an Trophäen zusammengebracht. Über 300 Tierköpfe, von Elchen über Giraffen, Elefanten, Tiger, Nashörner, eigentlich alles, was sich so abschießen lässt, schaut einem hier von oben zu, wenn man gemütlich ein Bierchen kippt. Die Rüsselspitze des Elefanten ist 4 Meter von der Wand entfernt und damit angeblich das größte präparierte Säugetier der Welt. Es hat schon 1952 4.000 $ gekostet, um ihn so zu präparieren. An der Seitenwand gibt es dann die Story dazu, wie und wo das jeweilige Tier sein Leben ließ.
Wir fahren weiter durch eine Landschaft, die mit Weinanbau, Obstplantagen, Oleander, Flüssen mit Schilfrohr usw. aussieht wie in Südfrankreich. Auch das Wetter passt, es ist knapp zu heiß, um angenehm zu sein. So landen wir in einer Beinahe-Geisterstadt namens Locke. Die wurde 1915 von Chinesen gegründet, als ihre Häuser im benachbarten Walnut Grove abbrannten. Seit 1920 geht es mit der Bausubstanz bergab, inzwischen haben noch ein Laden und eine Kneipe geöffnet.
Am Abend werde ich zuerst auf eine Party geschleppt und rumgezeigt. Bisweilen komme ich (der weltreisende Freund aus Deutschland) mir vor wie die Dame ohne Unterleib oder sowas auf dem Jahrmarkt. Da es aber reichlich Nahrhaftes gibt und eine von Lindas Kolleginnen über ihre abenteuerliche Reise im damaligen Jugoslawien berichtet, macht das Ganze durchaus Spaß. Dann schnell wieder ins Auto und rüber zu Rodgers High School. Da spielen nämlich "unsere" Trojans (rot) gegen die Granite Bay Grizzlies aus Roseville.
So ein richtiger Genuss ist das erste High School Game meines Lebens allerdings nicht. Zwei Drittel der Menschheit um uns herum ist unter 15 und nicht nur auf diesem Bild gerade am Kommen oder Gehen, die Herde ist eigentlich ständig in Bewegung. So ein Football-Spiel ist auch mehr ein gesellschaftliches Ereignis als etwas, dem man (vielleicht sogar noch sitzend) zuschaut. War ich auch mal so alt? Unsere Jungs kommen übrigens kräftig unter die Räder, das Programm der Cheerleaders ist eher dürftig, das Maskottchen ziemlich traurig und die gegnerische Band viel besser.
Das Wochenende wird sehr gemütlich verbracht. Ein Besuch auf dem Farmer's Market (wo mich die bunten Bell Peppers begeistert haben), eine Runde plantschen in Gray's Fitness-Club, ein Abendessen beim Vietnamesen. Dazu am Computer gebastelt und eingekauft. Langsam gewöhne ich mich daran, dass man hier 24 Stunden am Tag einkaufen kann, bevorzugt Sonntags. Das wird hart, wenn sie bis zu meiner Rückkehr das Ladenschlussgesetz immer noch nicht abgeschafft haben! Am nächsten Tag wollten wir eigentlich nach San Francisco fahren. Da wird aber nix draus, denn heute ist der 11. September. Obwohl wir mangels Kabelfernsehen kein CNN bekommen, bieten auch die anderen Fernsehstationen jede Menge Bilder und Berichte. Um mich herum werden Brücken gesperrt, Flughäfen und Einkaufszentren geschlossen. Eigentlich wollte ich ja noch was am Computer tun, aber da zuerst das Radio, später auch noch der Fernseher nebenher läuft, wird da nicht viel draus. Ich erinnere mich zurück, als ich selbst auf der Aussichtsplattform des World Trade Center stand und versuche mir 10.000 Tote vorzustellen.
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